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Mehr Mobilität durch Fahrradkurs

Theresia Debeerst-Debevere (rechts) im Gespräch mit den Teilnehmerinnen.

 Neustart des Angebots von Volkshochschule und des ADFC nach Corona-Pause

Von Sebastian Hamel

Lingen. Im Syrien oder im Iran durften sie kein Fahrrad fahren. In Deutschland müssen Migrantinnen es erst lernen, um mobil zu sein. Für die Teilnehmerinnen bringt ein ADFC-Kurs in Lingen jedoch mehr als nur das.

Noch etwas vorsichtig, aber doch fest im Sattel sitzend radelt Martina aus Emden über den Übungsplatz der Verkehrswacht in Lingen. Die 47-Jährige, die in der ehemaligen DDR geboren wurde, hat in ihrem Leben nie wirklich Radfahren gelernt.

Dies soll sich nun ändern: Martina ist eine von sechs Teilnehmerinnen eines Kurses des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) und der Volkshochschule Lingen, in welchem die sichere Fortbewegung mit dem Zweirad erlernt wird. Das Angebot richtet sich in erster Linie an Migrantinnen, steht aber grundsätzlich allen interessierten Frauen offen.

Auf dem Übungsgelände an der Schüttorfer Straße hat Theresia Debeerst-Debevere ihre „Fahrschülerinnen“ genau im Blick. Die 64-Jährige ist ausgebildete ADFC-Radfahrtrainerin und bietet seit 2012 entsprechende Kurse an. Nach rund zwei Jahren coronabedingter Pause freut sie sich, nun wieder an den Start gehen zu können.

Die Expertin betont allerdings: Beibringen kann sie das Radfahren nicht, aber mit Tipps und Hinweisen unterstützen, es selbst zu lernen. Die Teilnehmerinnen aus Syrien und dem Iran berichten, dass ihnen als Frauen in ihren Heimatländern die Nutzung des Fahrrads gar nicht gestattet war. Debeerst-Debevere sagt: „Für viele von ihnen ist es deshalb auch ein Stück weit Emanzipation, es jetzt zu können.“

Bevor die Frauen in die Pedale treten, stehen zunächst einmal „Trockenübungen“ mit Tretrollern an. Es geht darum, ein Gespür für das Fahrzeug zu bekommen und Ängste abzubauen. Erst halten die Teilnehmerinnen ihre Roller einfach am Lenker fest, gehen einmal drumherum – dann setzen sie sich behutsam mit den Gefährten in Bewegung.

Sie erfahren die Geschwindigkeit, das Bremsverhalten und versuchen, das Gleichgewicht zu halten. Was selbstverständlich klingen mag, ist eine Herausforderung, die es mit Geduld und Willenskraft zu meistern gilt.

Erst nach den Rollerübungen widmen sich die Frauen den Fahrrädern. Alle Zweiräder gehören dem Verein Willkommen im südlichen Emsland – Integrationslotsen, welcher die Vehikel 2015 nach einer Sponsoring-Aktion beschaffen konnte. Die Verkehrswacht Lingen stellt eine Garage zur Unterbringung der Räder am Verkehrsübungsplatz bereit und übernimmt zudem die Beförderung der Kursteilnehmerinnen per Bulli vom Bahnhof Lingen zum Übungsgelände und zurück.

Nicht nur für die Migrantinnen, auch für Teilnehmerin Martina ist es ein gutes Gefühl, bald das Radfahren zu beherrschen. „Alle können es, ich aber nicht. Ich bin nie über das Anfängerstadium hinausgekommen“, berichtet sie. „Das ist irgendwann peinlich.“

Als sie nun kürzlich mit ihrem Mann in Kroatien Urlaub machte und man dabei auf gemeinsame Radtouren verzichten musste, war für die Ostfriesin endgültig klar: Es muss etwas geschehen. Wie es sich nun anfühlt? Sie zittere etwas, gibt Martina zu: „Als Kind lernt man das Radfahren spielend, als Erwachsener ist man schon ängstlicher.“

Auch für die 27-jährige Syrerin Kolsoum Mohammadi hat es eine große Bedeutung, jetzt mit dem Fahrrad unterwegs sein zu können: „In Deutschland können fast alle Leute Rad fahren, und Radfahrer haben hier viel Platz. Immer das Taxi zu nehmen, ist viel zu teuer.“ Für die Migrantinnen bedeutet das Erlernen des Radfahrens einen erheblichen Gewinn an Mobilität und Unabhängigkeit, was letztlich auch die Integration fördert.

Insgesamt zehn Treffen à zwei Stunden umfasst der Lehrgang. Neben den praktischen Übungen erfolgt auch die Vermittlung der wichtigsten Verkehrsregeln. Der Anspruch wird im Laufe des Kurses immer weiter gesteigert: Nach den Tretrollern und den kleinen Klapprädern können die Teilnehmerinnen am Ende auch auf größere Fahrräder steigen.

Abschließend unternimmt Theresia Debeerst-Debevere mit ihnen eine Fahrt durch ein Wohngebiet, um das Radfahren unter Realbedingungen zu trainieren. Auch danach gilt es für die Frauen, am Ball zu bleiben: „Das Lernen ist mit dem Kursus nicht vorbei. Sie müssen unbedingt weiter üben, das ist ganz wichtig“, mahnt die Trainerin.

Martina aus Emden ist jedenfalls optimistisch: „Ein bisschen unsicher fühle ich mich noch, aber ich habe ein gutes Gefühl. Zu meinem Geburtstag in wenigen Wochen kann ich es hoffentlich.“

Lingener Tagespost vom 27.09.2021

Der Verein „Willkommen im südlichen Emsland – Integrationslotsen e. V.“ wurde im März 2016 in Lingen gegründet. Zweck des Vereins ist es, Zuwanderer bei der Integration zu begleiten und zu unterstützen.

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